„Werben Sie für eine Umverteilung“

Buß- und Bettag mit Dr. Ulrich Schneider in der Emmaus-Kirche

Dank für einen engagierten Vortrag (von links): Dr. Ulrich Schneider, die KV-Vorsitzende Elke Zach und Monika Gotzes-Karrasch, Langenhagens 1. Stadträtin. Foto: Andrea Hesse
Dank für einen engagierten Vortrag (von links): Dr. Ulrich Schneider, die KV-Vorsitzende Elke Zach und Monika Gotzes-Karrasch, Langenhagens 1. Stadträtin. Foto: Andrea Hesse

„Mit der Abschaffung des Buß- und Bettages in den 1990er Jahren haben wir ein Stück Besinnung verloren – der Tag wurde dem Kommerz geopfert“, ist Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, überzeugt. Mit gleicher Klarheit leitete er nach diesen deutlichen Worten zum eigentlichen Thema des Abends über: Die Emmaus-Kirchengemeinde hatte ihn eingeladen, um am Buß- und Bettag im Rahmen der Friedensdekade zum aktuellen Armutsbericht Stellung zu nehmen. Seit 2002 lädt die Emmaus-Gemeinde in Zusammenarbeit mit der Stadt Langenhagen alljährlich zum Buß- und Bettag in die Wiesenauer Kirche ein; eröffnet wird der Abend mit einem Regionalgottesdienst der Langenhagener Kirchengemeinden.

„Wir befinden uns in Deutschland zurzeit in einem heftigen Streit“, eröffnet Schneider seine Stellungnahme. Der Streit drehe sich um die Fragen, was Armut eigentlich sei und ob es sie hierzulande gebe. Schneider entlarvt die immer wieder bemühte Aussage „In Deutschland gibt es nur ganz wenig Armut“ als das, was sie ist: eine Phrase. „12,9 Millionen Menschen leben in Deutschland in Armut“, stellt er fest; geleugnet werde dies in Politik und Gesellschaft, um der moralischen Verpflichtung, etwas dagegen zu tun, zu entgehen. Hinzu komme, dass Armut verschämt ist und sich meistens in den eigenen vier Wänden abspielt: „Arme Menschen kommen selten raus; viele haben nicht mal die fünf Euro für den Altenausflug übrig. Und Armut ist verschämt – sie sucht Ausreden.“

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Einblicke in ein gerne verschwiegenes Thema gab Dr. Ulrich Schneider in der Emmaus-Kirche. Foto: Andrea Hesse

Betroffen von Armut sind insbesondere alte Menschen, Kinder und Jugendliche und ihre Eltern: Das Rentenniveau liegt mittlerweile deutlich unter sozialverträglichen 50 Prozent, drei Viertel aller sechs Millionen Hartz-IV-Bezieher sind länger als vier Jahre auf diese Leistung angewiesen. „Kinder, die in der Hoffnungslosigkeit von Hartz-IV-Familien aufwachsen, bekommen immer wieder vor Augen geführt, dass Anstrengung sich nicht lohnt“, benennt Ulrich Schneider einen Teufelskreis. 1,7 Millionen Kinder in Deutschland sind davon betroffen; 39 Prozent der alleinerziehenden Mütter und Väter müssen über Jahre von Hartz IV leben. Nach Ansicht Schneiders ist diese sozialpolitische Katastrophe nur mit Geld für die Familien zu beenden; Maßnahmen wie Bildungsgutscheine dienten nur dem eigenen Gewissen. Auch Ganztagsschulen sieht Schneider nicht als Lösung an: „Man kann Kinder nicht gegen ihre Eltern bilden.“ Nur die eigene Motivation verhelfe Kindern zu einer guten Bildung – und diese Motivation gebe es nur, wenn die eigenen Eltern in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. 

Als Ursache für die allgegenwärtige, öffentlich verschwiegene Armut sieht Ulrich Schneider das Fehlen individueller Hilfen und eine „Kultur der Gier“, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Wirtschaft und in Teilen der Bevölkerung breit gemacht habe. „Unsere Zahlen werden jedes Jahr schlimmer“, so der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen; die Diskrepanz zwischen den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung und dem Rest wachse beständig an. Mit schwindelerregenden Zahlen illustrierte Schneider diese Aussage: 5,4 Billionen Euro Barvermögen liegen auf deutschen Privatkonten; mit einem Bruchteil davon – jährlich 50 bis 60 Milliarden – ließe sich die Armut in Deutschland wirksam bekämpfen. Das aber mache einen Kulturwandel nötig: von einer Kultur der Gier zu einer Kultur des Teilens.

„Nichts hätte uns davon abhalten müssen, bei der Reform der Erbschaftssteuer etwas zu tun, das für Gerechtigkeit sorgt“, schließt Schneider seinen Vortrag. Das dies nicht geschehen sei, sei der erfolgreichen Lobbyarbeit der „Familienbetriebe“ BMW, Lidl, ALDI und Co. zu verdanken. Was jeder Einzelne tun könne? „Öffnen Sie Ihre Augen für die Armut und werben Sie überall für eine Umverteilung.“

 

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