Sankt Walter
Pastor Rainer Müller-Jödicke, Engelbostel

Berlin: Alexanderplatz. Ich kam aus dem Bahnhof und dann sah ich ihn: St. Walter. Groß steht er da, mitten auf dem Platz, und weithin sichtbar. Ich habe schon viele Kirchen gesehen, auch in unserer Bundeshauptstadt. Aber keine hat ein so hohes Kreuz wie dieser Sankt Walter. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist nicht so hoch und der Berliner Dom – gleich nebenan – wirkt winzig dagegen. Das Kreuz von St. Walter aber sieht man bei gutem Wetter von überall aus in Berlin.
Nun ist St. Walter keine Kirche. Zwar gab es in der katholischen Kirche besondere Glaubensvorbilder mit Namen Walter, aber sie standen nicht Pate für dieses Gebäude. Es ist vielmehr so, dass die Berliner gern ihren Gebäuden Spitznamen geben. Das Kanzleramt heißt zum Beispiel Kohlosseum, andere nennen es Waschmaschine. Und der gläserne Palast der Republik, der früher auch am Alex stand, hieß Erichs Lampenladen. Als aber Walter Ulbricht noch an der Spitze der DDR stand, ließ er den Fernsehturm auf dem Alexanderplatz bauen. Viel Technik – darauf war das System stolz. Und schön war der Bau auch, vor allem die glitzernde Kugel in luftiger Höhe.
Doch wenn Licht auf eine Kugel scheint, dann erkennt man darauf ein Kreuz. Und so kommt es, dass ausgerechnet Walter Ulbricht dafür sorgte, dass hoch über Berlin ein Kreuz zu sehen ist: Bemerkenswert, weil das System der DDR die Kirchen oft und schwer schikaniert hat. Es soll sogar Wettbewerbe gegeben haben, wie es gelingen könnte, das Lichtspiel mit dem Kreuz zu verhindern. Doch das Kreuz blieb.
Und wenn der Konfirmand in Friedrichshain hörte, dass er ohne die Jugendweihe mittelfristig die Schule würde verlassen müssen, und wenn der Pastor am Prenzlauer Berg merkte, dass sein Telefon abgehört wurde, dann konnten sie aus dem Fenster schauen und sehen, dass Gott ihnen trotzdem Hoffnung macht. Gott ist da! Sein Kreuz ist höher als alle Pläne des Regimes.
In Kirchen haben sich später die Bürger der DDR versammelt und sind zu den Montagsdemonstrationen aufgebrochen, die schließlich die Diktatur zu Fall gebracht haben – gestartet waren sie unter dem Kreuz.