Die Kraft der Gebete und die Friedliche Revolution
Leipziger Pastor kommt zum Reformations-Gottesdienst nach Engelbostel

Ein Schlaganfall und die folgende, sehr langwierige Genesung waren der Grund dafür, dass sein Name in der Öffentlichkeit bislang wenig bekannt wurde: Der lutherische Pastor Christoph Wonneberger spielte im Herbst 1989 eine herausragende Rolle für die Friedliche Revolution in der damaligen DDR und den folgenden Mauerfall. Nur zehn Tage vor dem Fall der Mauer traf ihn der schwere Schlaganfall, der ihn von einem auf den anderen Tag verstummen ließ und zu seiner Frühpensionierung im Jahr 1991 führte. Bis zum 30. Oktober 1989 war Wonneberger Koordinator und Impulsgeber für die Montagsgebete in der Leipziger Nikolai-Kirche gewesen; er sorgte für Druck und Verteilung des berühmten Flugblattes „Wir sind ein Volk“ und informierte westliche Medien über die Leipziger Demonstration vom 9. Oktober 1989 mit 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Eine besondere Beziehung verbindet Christoph Wonneberger mit der Martins-Kirchengemeinde im Langenhagener Ortsteil Engelbostel: 1986 begann die Gemeinde eine Partnerschaft mit der Lukas-Kirchengemeinde Leipzig-Volkmarsdorf, in der Wonneberger damals Gemeindepastor war. Sechs Reisen in die ostdeutsche Partnergemeinde unternahmen Delegierte aus Engelbostel bis zum Herbst 1989; ein großer Teil der Organisation dieser Fahrten lag in den Händen von Holger Kiesé, damals junger Diakon an der Martins-Kirche.
„Natürlich war uns bekannt, dass Christoph Wonneberger für die inhaltliche Gestaltung der montäglichen Friedensgebete in der Nikolai-Kirche verantwortlich war“, erzählt Kiese. „Welche Macht der Veränderung die Kerzen und Gebete an den Montagen im Herbst 1989 aber hatten, und was das mutige Handeln von Pfarrer Wonneberger für die Wiedervereinigung bedeutete – das habe ich, das haben wir erst so langsam in den Monaten und Jahren nach dem Mauerfall realisiert.“
Einen kleinen Anteil am Gelingen der Friedlichen Revolution hatte wohl auch ein Matrizendrucker, der 1986 im Engelbosteler Gemeindebüro aussortiert wurde. 1987 schmuggelte die Engelbosteler Delegation das Gerät – in Einzelteile zerlegt und in den Koffern verborgen, mit viel Herzklopfen über die Grenze und zu Pastor Wonneberger nach Leipzig. „Eine Kopie des Bauplanes und die Liste aller Einzelteile habe ich heute noch“, erzählt Holger Kiesé. Im Oktober 1989 wurde dann ein Teil der insgesamt 25.000 Exemplare des Flugblattes „Wir sind ein Volk“ auf diesem Gerät gedruckt. Das Papier forderte die Einsatzkräfte und die Leipziger Bevölkerung eindringlich dazu auf, auf jede Art von Gewalt zu verzichten.
Kurze Zeit nach dem Schlaganfall Wonnebergers holten Engelbostels damaliger Pastor Manfred Schmidt und seine Frau Karla Schmidt den Leipziger Pastor aus einem Krankenhaus ab und brachten ihn zur Behandlung in die Medizinische Hochschule Hannover. Im Anschluss lebte Wonneberger mit seiner Frau insgesamt ein Jahr in Engelbostel und im Kloster Wülfinghausen südlich von Hannover.
Am Reformationstag wird Christoph Wonneberger den Gottesdienst in der Engelbosteler Martins-Kirche gemeinsam mit Pastor Rainer Müller-Jödicke gestalten und bei der anschließenden Begegnung für Gespräche zur Verfügung stehen. „Pastor Wonneberger wird bei uns mit seiner Person bezeugen, wie viel Kraft von Kerzen und Gebeten ausgehen kann“, sagt Müller-Jödicke.
Wann muss man stellvertretend für andere widersprechen?
Ein Interview mit dem Leipziger Pastor Christoph Wonneberger
Pastor i. R. Christoph Wonneberger war während der Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 eine der prägenden Kräfte in Leipzig. Am Reformationstag gestaltet er aufgrund einer persönlichen Verbindung nach Engelbostel den Gottesdienst in der dortigen Martins-Kirche gemeinsam mit Gemeindepastor Rainer Müller-Jödicke. Im Vorfeld führte Andrea Hesse, Öffentlichkeitsreferentin im Kirchenkreis Burgwedel-Langenhagen, ein Gespräch mit dem Leipziger Pastor.
Öffentlichkeitsarbeit im Kirchenkreis Burgwedel-Langenhagen: Herr Wonneberger, 1989 haben Sie großen Mut gezeigt und sind ein hohes persönliches Risiko eingegangen. Aus welchen Quellen hat sich dieser Mut damals gespeist?
Wonneberger: Ich bin in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen und bin vielleicht aus diesem Grund ein ziemlich angstfreier Mensch. Vorsicht ist für mich kein beherrschender Impuls und ich scheue das überschaubare Risiko nicht. Wahrscheinlich habe ich auch beizeiten gelernt, mit der Angst umzugehen.
Was hat Sie denn vor 30 Jahren dazu bewogen, Ihre Stimme für die Friedliche Revolution zu erheben?
Man musste damals sehr genau überlegen, wo und wann man dem Staat widerspricht und wann man es stellvertretend für andere tun muss – diese Überlegungen habe ich damals angestellt. Dabei habe ich immer nur meine persönliche Überzeugung formuliert und nach eigenen Worten gesucht, denn einfach nachzubeten, was irgendwo geschrieben steht, fällt mir schwer. Die Bibel habe ich nur dann genutzt, wenn ich in ihr das treffendste Zitat gefunden hatte – noch treffender fand ich oft Worte von Dorothee Sölle oder Dietrich Bonhoeffer oder Ernesto Cardenal.
Wie ist es Ihnen und anderen im Herbst 1989 gelungen, im säkularen Umfeld der DDR eine starke Gemeinschaft innerhalb der Kirche aufzubauen?
Ich habe Kirche nie als Binnenklima wahrnehmen wollen, das hat mir sicher geholfen. Vor meinem Theologiestudium hatte ich schon einen handwerklichen Beruf gelernt, ich bin Maschinenschlosser. Und ich habe Möbel gebaut – diese Beschäftigung mit den Händen hat es mir möglich gemacht, mich selbst zu entlasten und mich zu sammeln. Der Kontakt zu den Menschen fiel mir leichter dadurch, dass ich die Dinge nicht nur mit dem Kopf angegangen bin.
Wenn Sie und andere Menschen in der Kirche damals nicht den Mut aufgebracht hätten, hätte es eine andere Institution gegeben, die das Ende der DDR hätte (mit-)herbeiführen können?
Ich glaube nicht. Es gab keine andere Institution in der DDR, die so wenig angepasst war wie die Evangelische Kirche. In der Kirche hatten die Menschen einen Freiraum, überall sonst mussten sie kuschen oder flogen raus. Das war auch für mich ein Grund, Theologie zu studieren – und ich wollte mit meinem Vater, einem Pfarrer, qualifiziert streiten können.
Trauen Sie der Kirche heute in der Auseinandersetzung mit AfD, Pegida und Reichsbürgern eine ähnliche Kraft zu, wie Ihre Kirche sie vor 30 Jahren hatte?
Ich habe da wirklich Zweifel – die Kirche in Sachsen zum Beispiel ist heute wesentlich stromlinienförmiger als vor 30 Jahren. Die einzelnen Mitglieder haben alle möglichen Überzeugungen, aber die Kirche insgesamt empfinde ich als sehr konservativ. Mir fehlt ein bisschen der Überblick, was die jungen Kolleginnen und Kollegen in den Gemeinden tun; trotzdem habe ich das Gefühl, dass der Alltagsbetrieb sie auffrisst. Da bleibt wenig Energie für andere Dinge.
Wünschen Sie sich aktuell die konkrete theologische und politische Auseinandersetzung unserer Kirche mit rechten, nationalistischen Positionen?
Eine theologische Auseinandersetzung auf diesem Feld finde ich schwierig – das ist eher eine seelsorgliche Frage: Was hat dazu geführt, dass die Menschen so denken, wie sie denken? Und leider ist die Kirche ziemlich lau, was die Themen Frieden und Friedenserziehung, Abrüstung und Menschenrechte angeht. Das ist für mich traurig zu erleben.
Zuletzt noch eine Frage mit Blick auf den Reformationstag: Warum verbringen Sie ihn in diesem Jahr, kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls, in Engelbostel und nicht in Leipzig?
Die Kirchengemeinde in Engelbostel hat dafür gesorgt, dass ich nach meiner Erkrankung ein sorgloses Jahr erleben durfte und während dieser Zeit gesunden konnte – da ist etwas wirklich gelungen. Dafür empfinde ich Dankbarkeit und möchte jetzt etwas zurückgeben, quasi das, was mir Gutes getan wurde, zurück spiegeln. Ich werde für den Gottesdienst in der Martins-Kirche zum ersten Mal nach ungefähr 20 Jahren meinen Talar wieder aus dem Schrank holen. Ich habe gerade festgestellt, dass er kleine Mottenlöcher hat – aber das wird schon gehen.