Die goldene Brille
Dorothee Beckermann, Dipl. Sozialarbeiterin/-pädagogin und Diakonin Diakonieverband Hannover-Land
Welche Brillen besitzen Sie eigentlich? Eine Lesebrille, eine Brille zum Autofahren, eine Sonnenbrille für draußen? Vielleicht sogar eine dünn geschliffene entspiegelte Gleitsichtbrille? Und was können Sie durch Ihre Brille sehen? Auch wenn Ihr Augenarzt beim letzten Sehtest nichts zu beanstanden hatte, gehen Sie doch mit ganz verschiedenen Brillen durch Ihr Leben.
Wie wir die Welt und die Menschen um uns herum wahrnehmen, liegt an der Brille, durch die wir sie betrachten. Manchmal ist unsere Brille trübe, wir können nicht genau erkennen, womit wir es zu tun haben. Wir sind mit anderen Dingen beschäftigt, die uns den Blick verstellen. Es gibt aber auch Zeiten, in denen wir durch die rosarote Brille schauen, so dass die Ecken und Kanten des angehimmelten Gegenübers zu verschwinden scheinen. Noch öfter tragen wir allerdings eine schwarze Brille, mit der wir besonders das erkennen, was nicht gelingt, was es uns schwer macht, was wir kritisieren und verändern wollen.
Wie wäre es, wir würden einmal ganz bewusst eine goldene Brille aufsetzen? Mit der goldenen Brille sehen wir nicht über Schwierigkeiten hinweg, aber wir verändern den Fokus. Die goldene Brille verleiht einen wohlwollenden Blick: Wo gelingt etwas gut? Wo erlebe ich Freude? Wo gibt es etwas Neues zu entdecken? Wo geschehen kleine beglückende Begegnungen? Im Markusevangelium lesen wir, dass ein junger Mann Jesus nach dem Wichtigsten im Leben fragt und folgendes geschieht: „Jesus sah ihn an, gewann ihn lieb und antwortete…“ Mit einem Blick erkennt Jesus hier, was sein Gegenüber bewegt. Er sieht die Sehnsucht nach Glück, das Bemühen, alles richtig zu machen, den Wunsch nach einfachen Antworten, die Suche nach dem eigentlichen Leben. Der Blick in Liebe ermöglicht es uns, im Verhalten des anderen seinen Versuch zu erkennen, mit seinen Fragen und Herausforderungen sinnvoll umzugehen. Wir entdecken in ihm den Schatz, der er in Gottes Augen schon immer ist. Ansehen und lieb gewinnen: die Welt, meinen Mitmenschen, das Leben, mich selbst.
Ich lade Sie ein zu einem Experiment: Gehen Sie doch an diesem Wochenende einmal mit der goldenen Brille auf der Nase spazieren. Achten Sie bewusst auf die kleinen Zeichen der Liebe und Freude in Ihrer direkten Nähe. Finden Sie mindestens drei – und ich verspreche Ihnen, Sie werden die goldene Brille lieben!