Das schafft sie
Pastor Rainer Müller-Jödicke, Engelbostel

Unsicher erklomm sie die Altarstufen. Das erste Mal sollte sie die Liturgie singen. Wir saßen zusammen in der Kirche, die Teilnehmenden des Lektorenkurses und ich. Als Lektorenbeauftragter des Kirchenkreises hatte ich in den letzten Monaten 17 Ehrenamtliche ausgebildet, die Gottesdienste gestalten. Dazu gehörte auch die Dame, die nun vor dem Altar zitternd das Notenblatt in der Hand hielt, um die Liturgie singen zu lernen.
Im Kurs hatten wir schon vieles erlebt: Souveräne Auftritte mit klarer Stimme und sicherer Führung der Gemeinde waren genauso dabei wie Ehrenamtliche, die sich ganz langsam und sehr ehrfürchtig in die neue Rolle einfinden wollten, weil doch die Rolle der Vorbeter eine heilige ist.
Die Dame am Altar raschelte mit dem Zettel und bat uns, noch ein zweites Mal mit dem Gemeindegesang zu starten. Ihre Aufgabe sollte es sein, nach dem „Amen“ allein weiterzusingen und Gott um Hilfe für die Gemeinde zu bitten. Ich beobachtete, wie sie sich immer mehr aufrichtete. Ihr Kopf schien nicht geneigt wie beim Gebet, sondern sie blickte leicht nach oben. Und dann sang sie: Mit klarer Stimme meisterte sie die uralte Melodie und bat singend darum, dass Gott sich erbarme. Überrascht zögerten wir anderen und sangen die Antwort. Ein leichter Schauer ging mir über den Rücken, denn ich hatte das Gefühl, dass wir unmittelbar mit Gott verbunden waren durch Gebet und Gesang.
Als wir zum Nachgespräch wieder zusammen saßen, fragte ich sie, wie sie es geschafft hätte, so wunderbar die Liturgie zu leiten. Sie sagte in unsere Runde: „Habt ihr nicht bemerkt, dass ich schräg nach oben geschaut habe?“ Sie zeigte auf den Christus am Altarkreuz. „Ich habe ihm direkt in die Augen gesehen und zu ihm geflüstert: „Wenn du willst, dass ich das schaffe und mich nicht blamiere, dann hilf mir. Du siehst mich jetzt an, also gib mir Kraft!“ Und diese Kraft habe sie dann so deutlich bemerkt, dass auch wir das gespürt haben.