Das magische Senfkorn

Pastorin Maria Blumenau, Ev.-luth. Emmaus-Kirchengemeinde Langenhagen

Foto: Bastian Hähling
Foto: Bastian Hähling

Haben Sie sich schon einmal in einer Fußgängerzone die Gesichter der Menschen angesehen? Die meisten haben große Einkaufstüten in der Hand – sie haben sich also gerade etwas geleistet - aber sie sehen trotzdem nicht fröhlich aus. Den allermeisten Menschen in Deutschland geht es so gut wie nie zuvor. Und doch wirken die Menschen nicht glücklich darüber. Wenn man etwas genauer nachfragt, dann merkt man: Die allermeisten Menschen haben etwas Schmerzhaftes auf der Seele. Sie haben auch mehr oder weniger Angst. Angst vor dem, was kommen könnte. Angst vor dem Versagen. Angst vor Fremden. Angst vor Krankheiten, Angst vor dem Leiden, ….

Es gibt kein Leben ohne Angst.
Und es gibt auch kein Leben ohne Leid.
Ich erinnere mich an eine Geschichte dazu.

In Indien lebte einst eine Frau, deren einziges Kind gestorben war. Auch Monate nach der Beerdigung war sie immer noch so traurig wie am Tage seines Todes. Ihre Freundinnen sagten ihr: So darf das nicht bleiben. Du musst zurückfinden in das Leben. Da ging sie zu einem weisen Mann. Sie sagte zu ihm: Ich bezahle dir welchen Preis auch immer. Wenn du nur Beschwörungen weißt oder Gebete kennst, dass meine Sohn in das Leben zurückkehrt. In dem Zimmer saßen auch die Schüler des weisen Mannes. Die erwarteten, dass ihr Meister der Frau erklären würde, dass ihr Wunsch unmöglich zu erfüllen ist. Und dass er sie dann wieder wegschicken würde. Doch der Meister schwieg lange und sah die Frau nachdenklich an. Endlich sagte er: Du musst ein Senfkorn finden – in einem Haus, wo die Menschen noch nie getrauert haben. Wenn du mir so ein Senfkorn aus einem glücklichen Haus bringst, dann kann ich etwas tun, um deine Trauer zu beenden. Anders kann ich dir nicht helfen.

Die Frau ging sofort los und überlegte, wo sie so ein magisches Senfkorn finden könnte. Sie kam zu einem großen, hell erleuchteten Haus. Da dachte sie: Die Menschen, die hier wohnen, müssen glücklich sein. Doch als sie das Haus betreten hatte und dem Ehepaar, das dort wohnte, erklärte, was sie von ihnen wollte – da traten der Frau des Hauses die Tränen in die Augen. Du bist leider in das falsche Haus gegangen, sagte sie. Wir haben erst vor drei Wochen unsere Tochter verloren und wir sind noch ganz gelähmt von unserer Trauer.

Die Frau, die nur ein Senfkorn suchte, war sehr betroffen. Sie dachte: Wie gut verstehe ich diese Menschen. Ich leide wie sie. Und deshalb leide ich mit ihnen. Und sie blieb eine Zeit lang in dem Haus und versuchte freundlich mit dem Ehepaar zu reden. Dann machte sie sich weiter auf die Suche nach dem Senfkorn.

Doch so sehr sie auch suchte… und sie suchte überall…. in den Palästen und den kleinsten Hütten… nirgends fand sie Menschen, die nicht von Trauer oder Leid betroffen waren. Und weil sie selber wusste, wie schwer die Trauer auf der Seele lastet, deswegen blieb sie immer ein wenig bei den Menschen und versuchte, ihre Schmerzen etwas zu lindern. Sie merkte zuerst gar nicht, wie allmählich ihr eigener Schmerz zu heilen begann. Und als sie deutlich spürte, dass es ihr schon leichter war uns Herz, da half sie den anderen doch immer weiter. 

Jahr später wurde ihr bewusst, dass die Suche nach dem magischen Senfkorn die Trauer aus ihrem Leben vertrieben hatte.

Es gibt nur ein wirksames Mittel gegen tiefe Trauer und gegen Angst: Man muss seinen Schmerz mit andern Menschen teilen können. Sonst besteht die Gefahr, dass man in der Trauer untergeht. Oder dass man hart wird und verbittert.

In der Bibel ist das in einem kurzen Vers zusammengefasst:

Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

 

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