Auch der Gottesdienst hat seine Zeit
Pastor Michael Brodermanns, Ev.-luth. St.-Georgs-Kirchengemeinde Mellendorf

Es war Sonntagmorgen. Eigentlich hätte ich zum Gottesdienst gewollt. Doch ich hatte verschlafen. Jetzt war es zu spät, um noch in die Kirche zu gehen.
Beim Frühstück stellte ich das Radio an. „Alles hat seine Zeit.“ So hieß das Thema des Gottesdienstes, der nun übertragen werden sollte. Die Orgel erklang. Etwas blechern tönte es aus dem kleinen Radiolautsprecher. Freundlich begrüßte der Pastor seine Gemeinde – die Menschen in der Kirche und die Zuhörer an den Radiogeräten. Das erste Lied wurde angekündigt. Eine vertraute Melodie zum mit summen am Frühstückstisch. Die Lesung aus dem Alten Testament: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde...“ (Prediger Salomo, Kapitel 3)
Draußen war es diesig. In der großen Tanne vor dem Fenster spielten die Vögel. Ob die Sonne es noch schaffen würde, den Dunst zu vertreiben? Vielleicht mache ich nachher noch einen Spaziergang, dachte ich.
Der Pastor im Radio erzählte von einem plötzlichen Todesfall. Ein Kollege seiner Frau war gestorben. Die Nachricht erreichte sie per E-Mail aus der Schule, in der sie unterrichtet. Ein Sportunfall in den Ferien. „Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“ stand über der Anzeige, die später in der Zeitung erschien.
Wie viel Zeit bleibt mir? Was ist, wenn mit einem mal alles zu Ende ist? Wer trauert, wer weint um mich, wenn ich einmal nicht mehr da bin? Was würde über meiner Todesanzeige stehen?
„Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“, sang unterdessen die Gemeinde im Radio. Es folgte ein Gebet. Mehrere Sprecher sagten Gott, was offen blieb in ihrem Leben. „Hilf uns teilen, was du uns schenkst und was du uns auflädst.“ Amen
Nach dem Vater Unser und dem Segen stellte ich das Radio aus. Eigentlich war es doch ganz gut, dass ich verschlafen hatte. „Alles hat sein Zeit“, dachte ich – auch der Radiogottesdienst am Sonntagmorgen.