„Europa hat das Wort Solidarität vergessen“
Lesung in der Elisabethkirche gibt Opfern und Rettern eine Stimme

„Man muss sie als Lebende retten, nicht als Tote bergen“ – dieser Satz von Raffaele, Fischer und Kapitän auf der süditalienischen Insel Lampedusa, war einer von vielen, die unter die Haut gingen. „In diesem Augenblick entscheidest du allein, wen du festhältst und wen nicht“, sagt Domenico, auch er Fischer auf Lampedusa. „Das ist, wie einen Moment lang Gott zu sein.“
Vergessen oder auch nur verdrängen können beide nicht, was sie am frühen Morgen des 3. Oktober 2013 erlebt haben. Auf einem Kutter, der mit 545 Menschen an Bord völlig überladen ist, bricht kurz vor der Küste ein Feuer aus und das Schiff kentert. 366 Flüchtlinge – Frauen, Männer und Kinder aus Syrien, Eritrea, Somalia und Äthiopien ertrinken an diesem Tag im Mittelmeer. Während die Menschen von Lampedusa verzweifelt versuchen, Menschenleben zu retten, bleibt die italienische Küstenwache passiv: Die Kommandanten warten auf „Weisung aus Rom“.
In einer szenischen Lesung in der Elisabethkirche zum Abschluss der Ausstellung „Gesichter des Christentums“ lassen Mitglieder des Spielkreis-Theaters der hannoverschen Matthias-Gemeinde den Morgen des 3. Oktober 2013 wieder Gegenwart werden – sie geben Opfern, Überlebenden und den Menschen auf Lampedusa eine Stimme. „Der kontinuierliche Zustrom vollzieht sich seit Jahren unter den gleichgültigen Augen Europas“, sagt die Bürgermeisterin der zwischen Sizilien und Tunesien gelegenen Insel. „Wir können es nicht mehr ertragen. Europa hat das Wort Solidarität vergessen.“
„Wir haben einfach beschlossen, zu helfen“: Pastorin Reni Kruckemeyer-Zettel und Shiyar Alabdullah. Foto: Andrea Hesse
„Waren wir als Europäer nicht für die Menschenrechte?“, fragt Antonio Umberto Riccò, der die Texte der Lesung geschrieben hat. Er erinnert an die Aktion „Mare Nostrum“, mit der Italien zahllose Flüchtlinge vor dem Tod im Mittelmeer bewahrte – wiederum unter den gleichgültigen Augen Europas.
Dankbar nahmen die betroffenen Zuhörerinnen und Zuhörer im Anschluss an die Lesung die Worte von Pastorin Reni Kruckemeyer-Zettel aus Wettmar auf: „Wir haben einfach beschlossen, zu helfen“, erzählte sie vom Beginn eines Kirchenasyls in ihrer Gemeinde. „Und wir haben gemerkt, dass uns das als Gemeinde gut tut.“
„Die Menschen, die zu uns kommen, bringen uns großesVertrauen entgegen“, berichtete Elke Zach von der Willkommensgruppe, die sich in der Emmaus-Kirchengemeinde in Langenhagen zusammengefunden hat und von dort aus Flüchtlinge in ganz Langenhagen unterstützt. Rund 250 Euro spendeten die Gäste der Lesung „Ein Morgen vor Lampedusa“ für die Arbeit dieser Gruppe, in der rund 70 Ehrenamtliche Hilfe vom Kinderspielkreis bis zum Deutschkurs anbieten.
„Wir müssen noch mehr werden“, wünschte sich Superintendent Holger Grünjes zum Ende der Veranstaltung angesichts der großen Aufgabe der Integration. Die Lesung leistete einen wichtigen Beitrag dazu, der Erfüllung dieses Wunsches ein Stück näher zu kommen: Sie gibt den Menschen auf der Flucht, die in der öffentlichen Wahrnehmung meist nur als Unpersonen und Zahlen in einer Statistik wahrgenommen werden, eine Stimme.