„Wir haben eher zu wenig als zu viel Angst“

Prof. Borwin Bandelow berichtete Erhellendes zum Thema Angst

Prof. Dr. Borwin Bandelow (links) und Superintendent Holger Grünjes in der Emmauskirche. Foto: Andrea Hesse
Prof. Dr. Borwin Bandelow (links) und Superintendent Holger Grünjes in der Emmauskirche. Foto: Andrea Hesse

Einen besonderen Gast konnte Superintendent Holger Grünjes jetzt in der Kirchenkreiskonferenz in der Emmauskirche in Langenhagen begrüßen: den Neurologen, Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten Prof. Dr. Borwin Bandelow, einen der bekanntesten Angstforscher und -therapeuten mit internationalem Renommee. Wohl nur aufgrund der gemeinsamen Studienzeit in Göttingen und der langjährigen Freundschaft war es dem Superintendenten gelungen, den Senior Scientist der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der  Universitätsmedizin Göttingen zu einem Vortrag zum Thema Angst in den Kirchenkreis zu holen. Insbesondere seit Beginn der Corona-Pandemie ist Bandelow ein gefragter Gesprächspartner in Talkshows ebenso wie bei Fachtagungen.

„Die Angst bringt uns elegant durchs Leben“ – mit diesem zunächst verblüffenden Satz umriss Bandelow knapp das, was er anschließend in einem fesselnden und gleichzeitig amüsanten Vortrag anhand von Beispielen ausführte: Angst war und ist für die Menschheit überlebenswichtig. Die Angst vor realen Bedrohungen beschäftige jeden Menschen und sei im entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil des Gehirns angesiedelt, in einer Art Angstzentrum. Spezifische Phobien – in Deutschland am verbreitetsten die vor Spinnen – wirkten als Schutzmechanismus und seien angeboren: „Ein Satz Phobien wird jedem von uns vererbt.“

Sinnvoll seien auch die Symptome der Angst, so Bandelow: Zittern, Herzrasen und das Gefühl einer nahenden Ohnmacht sollten Betroffene dazu treiben, die Ursache abzustellen – durch Kampf oder durch Flucht. Alles normal und in der menschlichen Entwicklungsgeschichte über viele Jahrtausende bewährt, so der Referent. Behandlungsbedürftig seien dagegen allgemeine Angststörungen oder soziale Phobien, die die häufigste Art von Störung in der Psychiatrie darstellen. Diese Störungen seien mit Verhaltenstherapie und Antidepressiva gut zu behandeln.

Auf die Frage, ob die Gesellschaft dabei sei, sich in eine Gesellschaft der Angst zu verwandeln, antwortete Bandelow mit einem klaren Nein. Kollektive Angst ende regelmäßig nach vier Wochen, selbst dann, wenn die ursprüngliche Gefahr oder Bedrohung noch vorhanden sei. „Im Moment haben wir eher zu wenig als zu viel Angst“, stellte der Wissenschaftler mit Blick auf die Entwicklung der Corona-Pandemie fest.

Das entwicklungsgeschichtlich uralte Angstzentrum im Gehirn sei nicht lernfähig – auch das betonte Bandelow in seinem Vortrag. Dies erkläre, warum Menschen sich mehr vor Wölfen als vor einer Fahrt auf der A2 fürchteten – obwohl letztere ein vielfach größeres Risiko berge. Gleiches gelte für die Flugangst oder die Angst vor Fremden: „In Neandertaler-Zeiten hatte es große Vorteile, im Stamm zu leben, der eine Kombination aus Sippenliebe und Fremdenfeindlichkeit pflegte.“ Die heutige Xenophobie und der sogenannte Parochialismus, also die angstgetriebene Abwehr von Fremden und die Konzentration auf die oder den jeweils nächsten Verwandten, resultierten aus diesem archaischen Angstsystem. Hinzu komme ein vom Gehirn gesteuertes Belohnungssystem, das durch die Ausschüttung von Endorphinen Euphorie und Schmerzfreiheit auslöse: „Am Ende ist die Angst weg und die Endorphine bleiben – das ist das Prinzip Tatort.“

Auch was Verschwörungsmythen à la Attila Hildmann angeht, greife das System aus Angst und Belohnung, erklärte Bandelow: „Zu Beginn der Krise fuhr das ‚Angstgehirn‘ hoch und überlagerte die Vernunft – das führte bei Impfgegnern zu einer grotesk falschen Risikoabwägung.“ Das Angstgehirn bewege sich intellektuell auf dem Niveau eines Huhns – da seien Argumente vergebens und es könne nur noch das Belohnungssystem helfen. Etwa in Form einer Bratwurst nach dem Piks …

Für Überraschung sorgte der Göttinger Wissenschaftler schließlich auch noch mit einem statistisch erfassten Wert. In der Coronakrise sei die Zahl der Suizide um 20 Prozent (2020 zu 2019) gesunken, berichtete er: „In einer Krise wollen alle überleben.“

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